Zwischen 8 – 12% aller Studierenden an Schweizer Universitäten und Hochschulen sind von einer Behinderung betroffen. 80% davon sind auf den ersten Blick nicht sichtbar. Um allen einen chancengerechten Zugang zum Studium zu gewähren und damit eine universitäre Kultur des Respekts zu leben, ist ein barrierefreier Zugang notwendig. Neben der Gewährleistung uneingeschränkten Zugangs zu Gebäuden und sämtlichen digitalen Ressourcen (e-Accessibility) streben wir auch eine Sensibilisierung für dieses Thema innerhalb der Universität an.
Bevor Sie als Leser:in sich von Kosten und zusätzlichen Aufwänden abschrecken lassen, möchten wir gerne betonen, dass es eine Verantwortung gibt, jeder:m die Möglichkeit einer universitären Bildung anzubieten. Die Digitalisierung eröffnet riesige Chancen für die gesellschaftliche Inklusion von Menschen mit Behinderungen und mindert digitale Ausgrenzung.
Hinsichtlich der barrierefreien Lehre hatten wir die Möglichkeit eine ausführliche Diskussion mit Frau Manon Christelle zu führen. Seit November 2023 unterstützt sie als Assistentin den SP-Nationalrat Islam Alijaj, der erste Politiker mit Cerebralparese und der dritte im Rollstuhl. Als Voraussetzung für die barrierefreie Lehre müssen Lerninhalte digital verfügbar sein, denn «Print is not accessible». Dabei gilt es sowohl sensorische Beeinträchtigungen (visuell, auditorisch, haptisch) und motorische Beeinträchtigungen (Feinmotorik oder Mobilität), als auch kognitive Beeinträchtigungen zu berücksichtigen. Hierzu schildert Frau Christelle die tagtäglichen Herausforderungen, welchen sich Herr Islam Alijaj stellen muss:
«Wir schreiben gemeinsam Mails, er sagt mir, was ich schreiben soll. Dadurch sind wir schneller, denn durch seine Behinderung kann er nur relativ langsam tippen. Dann geht’s los zu einem Termin, mit der Presse, mit Inklusionsbeauftragen, mit Fachstellen oder anderen Steakholdern. Die Protokolle schreibe ich, genauso wie ich Islam helfe, die Jacke an- und auszuziehen. Wir lernen aktuell, dass wir Pausen einbauen. Das ist vor allem für Islam wichtig, denn sein Kopf will teilweise mehr, als sein Körper leisten kann.»
Doch nun stellt sich die Frage, inwiefern die Universität ihren Beitrag zur barrierefreien (oder barrierefreieren) Lehre leisten kann, bzw. muss. Frau Christelle nennt hierbei einige effiziente Anpassungen aus ihrer eigenen Studienzeit: Während den Vorlesungen wurde ein akustisches Signal verwendet, um auch Menschen mit einer Sehbehinderung auf den Folienwechsel aufmerksam zu machen. Voraussetzung für eine benutzerfreundliche Wiedergabe eines digitalen Textes ist die «Robustheit» eines PDFs. «Robust» soll heissen, dass es möglich ist mit softwarebasierten Screenreadern Inhalte einer Website strukturiert wiederzugeben. So wird beispielsweise ein Titel als «Überschrift» oder ein Linkverweis als «Link» gekennzeichnet. Wird bei einem Titel lediglich die Schriftgrösse angepasst oder unstrukturierte Tabellen verwendet, kann ein Screenreader die Zeile nicht als Titel identifizieren, was die Verständlichkeit des Textes wesentlich erschwert.
«Es muss ausserdem zwingend mehr dafür getan werden, dass e-Accessibility einfach dazugehört.»
Ebenso wichtig ist es, dass Nutzende die Inhalte auf einer Website bei Bedarf vergrössern oder mittels Tastaturbefehl (z.B. Tabulator) navigieren können. Das Vorhandensein dieser Plug-in Funktion für die Schriftvergrösserung oder auch die Beachtung von Farbkontrasten verbessert die Zugänglichkeit der Website und Texte für Sehbeeinträchtigte. Nicht zu vergessen: Die Verwendung von Texten anstelle von Bildern und Grafiken erfordert nur minimale Anstrengungen, fördert jedoch die barrierefreie Lehre erheblich.
«Was mich ja immer besonders irritiert sind Aussagen wie „Also behinderte Menschen besuchen meine Webseite sowieso nicht.“, wenn es darum geht, die Webseite auch in leichter Sprache anzubieten. Solche Aussagen zeigen, wie stigmatisiert Menschen mit Behinderungen sind in unserer Gesellschaft.»
In der Tat ist es vielen Menschen nicht anzusehen, dass sie von einer Behinderung betroffen sind. Sogenannte «unsichtbare» Behinderungen wie AD(H)S oder Autismus sind oftmals nicht auf den ersten Blick sichtbar, was es für die Betroffenen nicht einfacher macht. Auf die Frage nach den potenziellen Veränderungen in Bezug auf e-Accessibility an Universitäten nennt Frau Manon Christelle sogleich mehrere wichtige Punkte:
«Ich würde mehr niederschwellige Workshops zum Thema Inklusion und Barrierefreiheit anbieten und an praktischen Beispielen aufzeigen, wie e-Accessibility umsetzbar ist. Es gibt auch jede Menge Tools, oftmals kostenfrei, wo man ausprobieren kann, wie barrierefrei die eigene Website, das eigene Dokument ist. Da gibt es den PAC accessibility checker, das Textanalysetool Wortliga oder Snagit, ein Programm, das Alternativtexte erstellt. Übrigens: Alternativtexte sind nicht nur für die Barrierfreiheit von Bedeutung, sondern verbessert auch die SEO (Suchmaschinenoptimierung). Ich denke auch, dass wir davon loskommen müssen, dass Barrierefreiheit nur für Menschen mit Behinderungen nützlich ist. Denn egal ob im digitalen oder nicht-digitalen Raum: Hürden stellen alle Menschen vor Herausforderungen.»
Alles, was im Bereich der digitalen Barrierefreiheit unternommen wird, stützt sich auf die WCAG (Web Content Accessibility Guidelines), welche durch das W3C (World Wide Web Consortium) entwickelt wurden. Der Experte für digitale Barrierefreiheit Tobias Roppelt, bietet hierzu mit seinem Team Seminare und Workshops an und hat insbesondere ein WCAG-Plakat entwickelt, das an allen Bildungsinstitutionen seinen Platz finden kann und muss.
«Barrierefreiheit ist kein Extra, kein Luxus. Barrierefreiheit gehört dazu wie Deutsch und Mathe.»
Die gesetzlichen Grundlagen für inklusiven Unterricht sind zwar erfüllt und trotzdem mangelt es im Alltag bei der Umsetzung. Teilhaben am Alltag, Zugang zur Universität und barrierefreier Lehre ist ein Recht, das uns allen zusteht. Auf die Frage wie barrierefreie Lehre mit den rasanten Fortschritten im Bereich der künstlichen Intelligenz im Zusammenhang steht, äusserst sich Frau Christelle äusserst positiv. Tools wie Screenreader oder Eye-Tracking fördern die Inklusion. Zudem bringt das enorme Lernpotential von KI immer mehr massgeschneiderte Lösungsansätze mit sich, auch für Menschen mit einer Behinderung und/oder Beeinträchtigung.
Eine grosse Thematik, aber schon mit kleinen Veränderungen kann ein Schritt in die richtige Richtung getan werden. Frau Christelle schafft es die wichtigsten Punkte auf den Tisch zu bringen. Screenreader, Möglichkeiten der Schriftvergrösserung, Text an Stelle von Bildern, und vor allem Zusammenarbeit unter dem Motto «Nichts ohne uns»: Ein Team aus Expert:innen auf diesem Gebiet, nämlich Menschen mit Behinderungen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Universitäten und Hochschulen ihre Verantwortung erkennen und aktiv zur Schaffung eines chancengerechten Zugangs für alle Studierenden beitragen.
Fragen? Für weitere Auskünfte zum Thema digitale Barrierefreiheit an der HSG stehen wir Ihnen jederzeit zur Verfügung: innoteach@unisg.ch Ein vertiefter Einblick bot auch Keynote Speaker Dr. Anton Bolfing, e-Accessibilty Spezialist an der ETH Zürich, dessen Auszeichnung Sie hier finden.
Nach ihrem Bachelor-Abschluss in mehrsprachiger Kommunikation an der ZHAW absolvierte Manon Christelle ihren Master im Bereich Fachübersetzen mit Schwerpunkt auf Barrierefreie Kommunikation. Ihr persönliches Interesse an Politik führte sie schließlich zu ihrer aktuellen Position als Assistentin des Nationalrats Islam Alijaj. Dieser Berufsweg ist nicht nur durch ihre fachliche Expertise, sondern auch durch einen persönlichen Bezug geprägt: Aufgrund einer Hirnblutung ist ihre Mutter heute auf einen Rollstuhl angewiesen, wodurch Manon Christelle direkt mit den Herausforderungen und Diskriminierungen konfrontiert wurde, denen Menschen mit Behinderungen gegenüberstehen.